Die Leinwand als Labor
Von Eva Menasse
Ende der achtziger Jahre stand ein junger Münchner namens Christoph Kern in Paris vor
den Monets und starrte auf die Serien von Seerosen und Heuhafen. Und da verstand er: Sie
sind nur Platzhalter, relativ beliebige Objekte, über die Licht und Schatten ziehen, woran
sich die Malerei seit jeher erprobt. Aber ob sie gut sind oder nicht, ob sie im Betrachter
etwas auslösen oder ihn kalt lassen, das liegt nicht daran, dass sie Seerosen, Heuhaufen
oder Besenstiele sind. Sie könnten auch Würfel sein, wenn sie nur gut gemalt sind. Diese
Idee hat den Maler Kern elektrisiert: Die Malerei auf das einfachste Objekt runterbrechen,
sie am Würfel noch einmal durchdeklinieren. Kern kehrte nicht mehr nach Hause zurück,
sondern zog ins blutige Berlin, wo gerade die Mauer gefallen war. Er fing noch einmal ganz
neu an. Er hatte seinen Lebensinhalt gefunden. Seit 1989, seit beinahe zwanzig Jahren,
malt Christoph Kern Würfel, nichts als Würfel.
Den neuen Lebensabschnitt begann er mit der berlinweiten Suche nach Bauklötzen. Bis
heute staunt er, welchen Schrott man Kindern anbietet. Erst in einem Laden für
Naturspielzeug in Schöneberg wurde er fündig, ordentlich geschreinerte Klötze,
abgeschrägte Kanten, ein ganzer Sack davon für ein Schweinegeld. Heute plant er seine
Bildvorlagen längst mit komplexen 3D-Programmen, aber damals waren es echte Bauklötze,
die er unter seinen Lampen liebevoll hin und her drehte, seine kleinen bunten Modelle.
Manische Maler gibt es noch immer. Auf den ersten Blick scheint es ja absurd, Tag ein, Tag
aus, seit Jahrzehnten nur Würfel zu malen, Würfel in allen Farben und Situationen, nichts
sonst. Natürlich war Kern schon als Kind Lego-Fan: „Mit Lego kann man alles bauen“. Und
er mag seine Würfel auch deshalb, „weil sie malerisch soviel weniger hergeben als etwa ein
Baum“.
Auf den zweiten Blick klingt Kerns Konzept größenwahnsinnig: Denn er hat sich nichts
Geringeres vorgenommen, als durch seine Malerei das Geheimnis der Malerei zu erkunden.
Die atmosphärische Aufladung. Das, was Monets Flächen flirren läßt. Das, was Malerei
„gut“ macht, was Bilder „funktionieren“ läßt, wie er es nennt. Doch in Wirklichkeit ist es
Ausdruck großer Demut. Kern betreibt malerische Exerzitien mit seinen Kuben, er legt seine
Bilder an wie physikalische Versuche, der Maler augenzwinkernd als Wissenschafter, die
Leinwand als Labor. Perfektion, so glaubt er, läßt sich nur durch sinnvolle und eisern
durchgehaltene Reduktion erreichen, ein anderes Wort für Konzentration, ja Meditation.
Festgelegt werden eine Ausgangssituation und die Bewegung der Objekte, einfachstes
Beispiel: kleiner roter Würfel kullert von links oben nach rechts unten. Licht und Umgebung
verändern sich während seiner Reise. Dann malt Kern die verschiedenen Stadien, immer
auf dieselbe Leinwand. Zustände, die „funktionieren“ – natürlich ein rein subjektives, kein
überprüfbares Kriterium –, dokumentiert er mit der Kamera. Und dann malt er drüber.
Irgendwann, manchmal nach fünf, manchmal nach fünfundzwanzig „Zuständen“, nach
Tagen, Wochen oder Jahren, kommen die Bilder zum Stillstand, wie ein Lavastrom, der
plötzlich stockt. Kern will die „Systematik so lange wiederholen, bis sich das System selbst
überholt, bis das Bild abhebt“. Anders gesagt: Seine Versuchsreihen sind angelegt wie ein
Landeplatz, konstruiert wie eine Antenne für den göttlichen, den kreativen Funken – der
Maler als Alchimist.